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Texte & 
Gedanken

animiertes Logo Spektrum Farbenspiel

Die Welt anders wahrzunehmen als die Mehrheit, war in meinem Leben seit jeher ein sehr präsentes Gefühl. Auch wenn dieses Gefühl erst vor wenigen Jahren einen Namen in Form einer Diagnose bekam, begleitet mich mein Schreiben schon viel länger. Worte geben meiner Welt Form, ein Gefäss – und vor allem eine für mich fassbare Struktur. 

Ich fühlte meine Welt stets in Bildern, nicht in gesprochener Sprache. Eine Empfindung, die viele im Spektrum teilen. Mein persönlicher Weg, mich auszudrücken, fand ich über Bilder in Form von Worten. Und diese geschriebenen Bilder sollen hier ihren Platz finden. 

All diese Texte eint, dass sie aus einer neurodivergenten Perspektive geschrieben wurden. Und so sehr meine Wahrnehmung vielleicht manchmal von der, der anderen abweicht, so sehr glaube ich daran, dass sich sehr viele Menschen auch in meinen Bildern wiederfinden. Im Spektrum meines Farbenspiels.

Perspektiven neurodivergenter Elternschaft

Brennglas
 

Autismus ist per Definition eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. Ich mag das Wort «Störung» nicht. «Tiefgreifend» hingegen trifft es ganz gut. So tiefgreifend diese Diagnose im Innern ist, so tiefgreifend wirkt sie auch im Aussen. Autismus wurde zum Brennglas in meinem Leben. Jedes einfallende Licht führt zu einem Feuer. Und es gibt nur zwei Optionen. Entweder hält der beschienene Part meines Lebens den Temperaturen stand oder er wird ohne Gnade in Schutt und Asche gelegt. Nicht dass ich wirklich gross gefragt wurde, ob ich das möchte, aber zeitgleich mit der Diagnose meines Kindes und danach auch bei meiner eigenen, kriegte ich dieses Brennglas in die Hand gedrückt. Mit der Aufforderung, doch alle Bereiche unseres Lebens nochmals neu zu beleuchten. Um festzustellen, ob sie feuerfest sind. Nun, erstaunlich viele Dinge sind es nicht. Freundschaften: in allen Farben von Schwarz koloriert. Familiärer Rückhalt: abgefackelt. Eigene Energiereserven: ausgebrannt. Urvertrauen: Beissender Rauch, der sich bis in die tiefste Faser der Kleidung frisst. Identifikation mit dem Umfeld: eine weit entfernte Rauchsäule nach einem Grossbrand. Eine Ahnung davon, was dort mal da war. Ein Vulkanausbruch vom Feinsten. Eine Eruption aus dem Innersten. Aber irgendwie hat so ein Vulkanausbruch ja auch etwas Verheissendes. Neues Land entsteht. Und darauf angeblich unglaublich fruchtbare Erde. Momentan stehe ich im Ascheregen. Ich sehe zu, wie vieles, das ich mal hatte oder war, sich in Rauch auflöst und langsam auf mein Leben nieder rieselt. Ganz sachte. Während ich nach oben schaue. Atme. Beobachte. Und versuche nicht zu bewerten. In der Hoffnung, sehen zu können, was daraus werden kann, wenn ich das Vertrauen in die Verheissung aufbringen kann. Naemi Baptista, November 2023

Gefühlsspektrum

Nullpunkte
 

Man hat vermeintlich nur ein Leben. Aber vielleicht hat man viele. Man startet mit einem, lebt sein erstes Leben. Macht Fehler, biegt falsch ab, trifft Kopf- statt Herzensentscheidungen, lebt um zu lernen. Bis die eigene Lebenslinie auf Nullpunkte trifft und sich das eigene Leben ab diesen Momenten zuerst zu verdoppeln, danach zu verdreifachen, sich immer weiter zu vermehren scheint. Bei jedem weiteren Nullpunkt eine weitere parallele Gerade zur eigenen Geschichte dazukommt. Immer mehr Notenlinie und Tonhöhen dazustossen. Sich die eigene Melodie in ihrer Essenz immer mehr zu verdichten scheint. Die Grundmelodie, die Gerade des Ursprungs, unser Cantus firmus trifft auf Erlebnisse, Prägungen, unerwartete Wendungen und Menschen. Nullpunkte und davon ausgehende Parallelen, die uns verändern. Die getragene Melodie verändert sich. Sie bekommt Unter- und Obertöne, scheint unerwartet zu stoppen, wieder Anlauf zu holen, an Virtuosität zuzunehmen und wieder abzuklingen. Nullpunkte, die uns Erfahrungen und Möglichkeiten schenken, nicht nur mit den eigenen Fehlern leben zu lernen, sondern mit den Erfahrungen der Fehler starten zu können. Die Chance, es nochmals neu machen zu können. Und nicht nur die Geschichte unserer Fehler zu sein. Nullpunkte, die uns im Innersten prägen. Unsere Melodie bis ins Mark erschüttern. In uns die Frage aufwerfen, wer wir sind, wenn wir unsere Grundmelodie nicht mehr hören. Und wir die Erfahrung machen, wie wir überleben, wenn wir nicht von der Melodie, sondern nur noch von der fernen Erinnerung an diese getragen werden. Nullpunkte, an denen wir auf Menschen treffen, die uns für immer verändern. Die unseren Grundton ins Wanken bringen. Um zu prüfen, wie viel Virtuosität und Tempo in unserem eigenen Lied stecken könnte. Die unsere gleichmässige Äquidistanz in Frage stellen, das Spektrum unseres Ambitus bis zum Äussersten gehen lassen. Und dann Nullpunkte, die nur aus Stille bestehen. Die äolische Stille bevor der Sturm losbricht. Die alles verklingen lässt. Unsere Töne, unsere Melodie, unser Lied. Damit wir lernen die Stille nicht nur auszuhalten, sie nicht nur zu akzeptieren, sondern sie als unerlässlichen Kontrapunkt zu unserem Odem anzuerkennen. Wir lernen wie viel Kraft im vermeintlichen Nichts liegen kann und mit welch’ einer Wucht unsere Melodie uns danach überfluten kann. Erkennen, welche Stärke in Stille liegt, weil sich unser Lied ohne sie gar nicht zu erkennen gäbe. Sie aller Anfang und Ende unseres Liedes ist. Was ist, wenn man viele Leben hätte? Und diese nicht nacheinander kommen. Sondern von verschiedenen Punkten der Grundmelodie ausgehend zu beginnen scheinen. Sich nicht berühren, aber doch Konstanten nebeneinander bilden. Jede neue Gerade nur einen Bruchteil der Fehler der letzten in sich tragen könnte. Bis sich die parallelen Geraden treffen. Am Ende der Lebenslinie und am Anfang der Unendlichkeit. Sich als letztes die Coda zeigt. Sich all diese Nullpunkte zu zersetzen beginnen. Man sich auflöst, um ewig zu sein. Und unsere Melodie nachhallt, so wie das eintreffende Licht eines längst verglühten Sterns. Als verwobene Codetta mit der an den Nullpunkten veränderten Melodien der anderen. Den weiterglühenden Gestirnen, deren Geraden ihren Lauf noch nicht beendet oder erst gerade begonnen haben. Naemi Baptista, 21.08.24

Kindheit im Spektrum​

Die Macht der Sprache
 

Als ich dich kennenlernte, sprachst du ein paar wenige Worte. Viel zu wenig für dein Alter, sagten sie. Sie glaubten nicht wirklich, dass da noch mehr kommen wird. Zu viel Zeit ohne sichtbare Entwicklung. Wir lernten uns kennen. Jeden Tag ein bisschen mehr. Wir begannen zu sprechen. In unserer eigenen Sprache. Weit weg davon, wie sich die anderen um uns herum unterhielten. Und doch: wir verstanden uns. Wir lachten zusammen, wir stritten uns, wir freuten uns gemeinsam. Es begann ein Uns zu entstehen. Ein Dich und ein Mich. Und über das, was andere als sinnlos abtun, fanden wir zueinander. Über das Echo der Sprache. Durch den Widerhall des Uns. Über Echolalien. Kleine, grosse, lange kurze, leise, laute, aktuelle, verzögerte und alles dazwischen. Wir freuten uns gemeinsam über jedes Wort. Ignorierten die irritierten Blicke, die man uns zuwarf. Denn: die anderen, die verstehen das nicht. Verstehen unsere Sprache nicht. Jede Echolalie ergab mehr Uns. Mehr dich und mehr mich. Auch wenn du das ständig verwechselste. Oder vielleicht eben auch nicht. Weil es für dich nur ein Uns gab. Nur eine der vielen Weisheiten, die ich von dir lernen durfte. Ich zielte nie auf etwas ab. Bewusst nicht. Ich nahm entgegen, was du mir zeigtest. Wer du warst. Bis zu diesem Tag, der sich so tief in mein Herz einkerbte, dass ich ihn nie vergessen werde. Wir sassen da und assen gemeinsam. Du wolltest dein Essen mit mir teilen, so wie immer. Botest mir deine Heidelbeeren an und ich sagte: «Eins für dich, eins für mich.» Du strahltest mich an und echolaliertest: «Für mich.» Aber irgendetwas war anders an diesem Tag. Du schautest die Beere an, die zwischen deinen Fingern lag. Schautest sie an, dann mich, wieder sie und dann wieder mich. Deine Augen begannen sich zu weiten, dein ganzer Körper begann zu vibrieren. Du schautest mir in die Augen und sagtest zum allerersten Mal: «Ich!» Du sagtest es nicht. Du schriest. Ohrenbetäubend. Und sprangst auf. Dein Stuhl kippte nach hinten, fiel mit lautem Krachen um. Alle Köpfe ringsherum drehten sich um. Zu uns. Denn du, das war allen in diesem Moment auf unbeschreibliche Art und Weise klar, du hattest in diesem Augenblick dein Ich gefunden. Während mir Tränen über die Wangen liefen, kullerten deine Beeren über den Tisch. Es gab ein dich, es gab ein mich, es gab ein uns. Und nun sprachst du aus, was schon seit Anbeginn in dir lag und was ich vom ersten Tag an sah. Dein Ich. In seiner ganzen Schönheit. Dein Startpunkt, um dir diese Welt mit deiner Sprache zu erobern. Naemi Baptista, November 2024

Sehr lebendige und praxisnahe Darstellung des Themas. Interessante Innensicht und Ehrlichkeit.

KiS, 2024

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